«Ich war erstmals nach 22 Jahren beim Geburi meiner Frau zu Hause»
Über 150 Fussball-Länderspiele, neun grosse Turniere, vier Natitrainer: Der Magglinger Physiotherapeut Stephan Meyer ist ein Rekord-Internationaler. Jetzt ist er zurückgetreten.
Stephan Meyer, warum ist Schluss mit der Nationalmannschaft?
Stephan Meyer: Eine Skandalgeschichte decken Sie mit dieser Frage nicht auf. Es kam ganz unspektakulär zu einem persönlichen Entscheid: Nach der WM in Katar war ich zurück in Magglingen und hatte eines Abends nach der Arbeit das Bauchgefühl, dass die Zeit für ein Ende gekommen ist. Nach Rücksprache mit der Familie stand der Entscheid fest. Ich bin auch stolz, konnte ich ihn freiwillig und ohne Druck fällen. Es ist schön, wenn man selbstbestimmt aufhören kann.
Das tönt nun doch etwas zu nüchtern – das Bauchgefühl löste mit Sicherheit Emotionen aus?
Ja klar. Die erste Emotion kam von meiner Frau, die sich freute, dass ich Ende März erstmals seit 22 Jahren bei ihrem Geburtstag anwesend war. Dieser Termin fiel immer in die Zeit der Qualifikationsspiele mit der Nationalmannschaft.
Und bei Ihnen?
Komischerweise habe ich den Spontanentscheid noch nie in Zweifel gezogen. Es war wohl tatsächlich Zeit aufzuhören.
Waren Sie aufseiten des Fussballverbands nicht in eine Mehrjahresplanung eingebunden, die ein sofortiges Ausscheiden verunmöglichte?
Einerseits war mit der WM im Dezember gerade ein WM-Zyklus abgeschlossen. Andererseits hatte ich einen völlig normalen Anstellungsvertrag, den ich jederzeit kündigen konnte.
Wie wurden Sie Physiotherapeut?
Während meiner Aktivzeit als Fussballer wurde Therapie ausschliesslich mit Verletzung in Verbindung gebracht und war nicht sehr beliebt. Weil ich Probleme mit den Adduktoren hatte, wandte ich mich bei meinem damaligen Klub in Grenchen dennoch an den Physio. Da traf ich auf einen ganz tollen Menschen, der die Begeisterung für diesen Beruf in mir wecken konnte. Beim FC Aarau war ich dann zuständig und merkte bald, dass ich nicht «nur» im Fussball tätig sein wollte. So wechselte ich nach Magglingen.
Wie kamen Sie zu Ihrer Aufgabe bei der Nationalmannschaft?
Angefragt wurde ich einst von Hansruedi Hasler, der nach vielen Jahren Tätigkeit in Magglingen als technischer Direktor zum Fussballverband wechselte. Insgesamt arbeitete ich seit 28 Jahren als Physiotherapeut für den SFV. Angefangen habe ich bei der U15 bei Hans-Peter «Bidu» Zaugg und kam dann zu Köbi Kuhn in die U21. Als dieser Nationaltrainer wurde, hat er mich dann in die A-Nationalmannschaft «mitgenommen.»
Wie viel Arbeitszeit haben diese Aufgaben beansprucht?
Die ganze Tätigkeit für den Fussballverband lief stets neben meinem beruflichen Engagement als Physiotherapeut in Magglingen. Ich bin seit 1990 bei der Hochschule für Sport. Hier bin ich zu 80 Prozent angestellt, beim Verband waren es 20 Prozent. Pro Jahr war ich rund 40 Tage mit der Mannschaft unterwegs. Wenn ein grosses Turnier anstand, verdoppelte sich diese Zahl schnell einmal. Dafür bezog ich in Magglingen jeweils unbezahlten Urlaub.
Was passiert mit diesem Fünftel, den Sie nun abgegeben haben?
Ich bleibe zu 80 Prozent in Magglingen angestellt. Erstmals in meinem Leben arbeite ich «normal» ohne permanente Erreichbarkeit und Wochenendeinsätze. Glauben Sie mir, ich habe aber trotzdem genug zu tun. Als Vater von Töchtern, die sich hochleistungsmässig im Skisport bewegen, bleibe ich auch neben meinem Beruf mit dem Sport in Verbindung. Das Ende der Verantwortung bei der Nationalmannschaft empfinde ich auch als Entlastung.
Woher kommt neben dem beruflichen Interesse Ihre Leidenschaft für Fussball?
Ich komme aus einer Fussballerfamilie und war selbst bis 40-jährig aktiv. Fussball ist mein Ding – das habe ich in die Wiege gelegt erhalten. Mich hat immer alles rund um diese Sportart interessiert, vor allem auch die Themen, wie eine Mannschaft funktioniert. Einst wollte ich selbst Profi werden. Das reichte einerseits leistungsmässig nicht ganz. Andererseits habe ich gesehen, welche Regeln und Verzichte so eine Karriere auch mit sich bringt. Ich habe es als Privileg angesehen, so nahe mit den besten Fussballern des Landes zusammenarbeiten zu können und trotzdem nicht ganz dazuzugehören.
Man spürt Ihre Begeisterung – Sie wirken fast wie ein Fan. Darf man als Mitarbeiter und als Angestellter Fan sein?
Nein, nicht Fan, das ist zu emotional. Dann ist man am falschen Platz. Ich muss als Physiotherapeut meine Aufgabe professionell anpacken. Jede und jeder rund um das Team hat einen Job, den sie oder er als Profi zu erledigen hat. Man ist entsprechend auch nie ein Freund von Spielern. Man begegnet einander auf Augenhöhe als Fachperson. Natürlich findet man zum einen oder anderen den Draht besser.
Gibt es einzelne Namen, die Sie speziell hervorheben können, im Sinn «toll, habe ich diesen Menschen kennengelernt»?
Es sind zu viele, um Einzelne hervorzuheben. Ich habe unzählige Spieler, Trainer und Betreuer kennengelernt. Fast alle sind grossartige Persönlichkeiten.
Bleiben Kontakte nach Karriereende bestehen?
Mit einzelnen Spielern bleibt der Kontakt. Vor allem, wenn Sie mit dem Sport in Verbindung bleiben. Ich freue mich immer, wenn frühere Nationalspieler in Magglingen kurz reinschauen und grüssen. Viele schreiben mir auch heute noch gelegentlich.
Die Liste Ihrer Handykontakte dürfte interessant sein?
Durchaus. Aber sie ist und bleibt privat.
Wo ist der Unterschied bei Ihrer Arbeit, wenn Sie Spitzensportlerinnen und Spitzensportler gegenüber «normalen» Patientinnen und Patienten behandeln?
Verletzungen werden in jedem Fall gleich behandelt, es gibt keine Abkürzungen. Der Unterschied in der Sportphysiotherapie mit Profis ist die Intensität. Gegenüber der durchschnittlich zweimal wöchentlich stattfindenden Therapie sehen wir Spitzensportlerinnen und Spitzensportler zweimal täglich. Die Behandlungen sind nicht anders, es steht einfach mehr Zeit zur Verfügung. Der eiserne Wille der Athletinnen und Athleten spielt dabei auch eine wichtige Rolle, wohl die entscheidende für eine rasche und gute Rehabilitation.
... wobei Sie sicher die eine oder den anderen auch bremsen müssen?
In der Tat. Wir müssen die Verletzten eigentlich dauernd bremsen. Sie wollen so schnell wie möglich zurück ins Training oder auf den Wettkampfplatz. Und wenn dies noch nicht möglich ist, wollen Sie eine Erklärung und eine möglichst präzise Prognose.
Die Entwicklung einer zunehmenden Ungeduld und dem permanenten Nachfragen nach Detailinformation und Erklärungen beobachten auch andere rund um den (Spitzen-)Sport. Stellen Sie dabei eine Veränderung fest?
Die Psychologie hat sich tatsächlich stark verändert. Mit der Mediatisierung haben sich viele Dinge entwickelt – mit Beachtung und Beobachtung hat auch der Druck enorm zugenommen. Die Spieler sind extrem gut informiert und wollen für alles eine Erklärung.
Verändert hat sich auch der Fussball. Der Sport ist viel schneller geworden. Dadurch steigt auch die Verletzungsgefahr. Wirkt sich das auf Ihre Tätigkeit aus?
Ja, ganz extrem. Der Bedarf an physiotherapeutischen Behandlungen ist massiv gestiegen. Die Intensität und die Belastungen sind gestiegen, zumal die Spieler bei Spitzenklubs fast während des ganzen Jahres mindestens zwei Ernstkämpfe pro Woche zu bestreiten haben. Wir kümmern uns täglich um viele «Bobos». Erst bei schweren Verletzungen reisen die Spieler aus der Nationalmannschaft ab und lassen sich beim Heimklub behandeln. Immer wichtiger ist die Prävention. Wir sind integriert ins athletische Training der Spieler. Dabei geht es darum, Verletzungen grundsätzlich zu vermeiden.
Als Physiotherapeut pflegen Sie ein spezielles, persönliches Verhältnis zu den Spielern. Verraten Sie uns: Wie sind die Stars im Umgang mit Ihnen?
Da gibt es kein Geheimnis und es ist auch nicht spektakulär: Die Spieler sind völlig normale Menschen mit völlig normalen Themen und Sorgen. Natürlich verändert Bekanntheit und Einkommen jeden Menschen. Bei mir waren aber alle immer gleich – sonst hätte ich diese Aufgabe auch nicht so lange gemacht.
Als Vertrauensperson erfahren Sie sicher mehr als andere?
Es baut sich schon ein Vertrauensverhältnis auf. Die Spieler sprechen mit mir logischerweise nicht nur über ihre Verletzungen. Wir haben genügend Zeit, um über anderes zu diskutieren. Gerade bei Verletzungen schwingen Karrieren- und Zukunftsängste mit. Persönliches und Privates gehört dabei zur Kategorie «Physiotherapeuten-Geheimnis».
Ihr Rücktritt ist noch ziemlich aktuell, und Sie mussten sich noch kaum an eine nationalmannschaftslose Zeit gewöhnen. Trotzdem: Vermissen Sie schon etwas?
Bis jetzt bin ich komplett im Frieden mit mir und meinem Entscheid. Wenn aber Fussballer in der Physio in Magglingen aufkreuzen, merke ich schon, dass das etwas mit mir macht. Den Kontakt mit den Jungs werde ich vermissen. Noch zucke ich beim Schauen von Fussballspielen zusammen, wenn ein Nationalmannschaftsspieler verletzt liegen bleibt. Während des Cupfinals hat mich meine Frau dann sanft darauf hingewiesen, dass dies nun nicht mehr meine Aufgabe sei.
Sie haben während Ihrer Karriere auch mehrere Nationaltrainer begleiten dürfen. Wie war die Zusammenarbeiten mit diesen Chefs?
Mit zunehmender Wichtigkeit der medizinischen Abteilung hat sich auch der persönliche Kontakt verändert. Die Nationaltrainer waren sehr unterschiedlich und trotzdem waren sie gleich. Es geht letztlich nur um eines: Spiele gewinnen. Wer Nationaltrainer wird, ist in jedem Fall ein ausgewiesener Fachmann und eine grosse Persönlichkeit. Ich habe alle Trainer sehr geschätzt.
Den aktuellen Nationaltrainer Murat Yakin haben Sie schon als Spieler gekannt und betreut. Ist das Verhältnis und der Umgang deshalb anders?
Nein, gar nicht. Der Trainer ist der Chef, das akzeptieren wir alle. Was mir aber auffällt: Eigenschaften als Spieler sind auch beim Trainer zu erkennen.
Wie beurteilen Sie den Übergang vom aktiven Fussballer in die Rolle als Trainer?
Das ist ein schwieriger Übergang. Viele Spieler haben am Ende der Karriere genug vom Leben in Hotels, in Kabinen und auf Fussballplätzen. Wenn ich dann mitkriege, dass gleich eine Trainerkarriere angestrebt wird, bin ich gelegentlich erstaunt. Denn der Alltag gleicht sich ja auch da. Man lebt als Trainer das gleiche Leben wie als Spieler. Auch der Wechsel in andere Funktionen erfolgt oft zu schnell. Da wäre ich vorsichtiger.
Auf der Stufe Nationalmannschaft sind viele Alphatiere und tendenziell Egoisten tätig. Ist das ein Klischee?
So wie Sie es formulieren: ja. Es sind nicht Egoisten, sondern Spezialisten. Jeder hat seine Aufgabe und gehört dabei zu den Besten des Landes. Die Kompetenzen werden anerkannt, man redet sich grundsätzlich nicht drein. Ein offener Austausch und rege Diskussionen gehören trotzdem zum Alltag. Sehr geschätzt habe ich auch immer den Austausch mit den Berufskollegen in den Klubs. Bei den grossen Vereinen sind die Besten unseres Fachs angestellt, da kann man auch immer viel lernen.
Welche Turniere und welche Spiele aus den letzten 22 Jahren sind Ihnen in spezieller Erinnerung?
Es sind drei Spiele, die bei mir auch jetzt noch für Hühnerhaut sorgen. Die erste Erinnerung geht ins Jahr 2006 zurück. Das Spiel Schweiz gegen Togo bestritten wir in Dortmund vor der legendären Westtribüne in Rot. Noch nie waren so viele Schweizerinnen und Schweizer an einem Länderspiel. Sogar die Spieler waren nach dem Einlaufen komplett aus dem Häuschen. Der Moment, als das Stadion gemeinsam die Nationalhymne sang, ist unvergesslich.
Die beiden andern Erinnerungen?
Natürlich ist der Achtelfinal an der WM 2014 gegen Argentinien unvergesslich. Die Dramatik und der Ausgang dieses Spiels sind unvergleichlich. Ich erinnere mich gut an den Kopfball von Blerim Dzemaili Sekunden vor Schluss an den Pfosten. Die dritte Erinnerung ist noch recht frisch: Es ist der Sieg nach Penaltyschiessen an der EM 2021 gegen Weltmeister Frankreich – notabene nach einem 1:3-Rückstand. Die Motivationsrede von Captain Granit Xhaka vor der Verlängerung gehört zum Besten, was ich gehört habe.
Dieses Interview ist im Bieler Tagblatt vom Samstag, 22. Juli 2023 erschienen.
Zur Person
- Jahrgang: 1961, Wohnort Magglingen, aufgewachsen in Lengnau
- Beruflicher Werdegang: BSc Physiotherapie in Bern, Bürgerspital Solothurn, FC Aarau 1988/89, Leiter Sportphysiotherapie Swiss Olympic Medical Center/EHSM Magglingen 1990 bis heute
- Sportliche Stationen: FC Aarau 1988/89, Team Physio Olympische Sommerspiele Atlanta 1996, Head Physio Olympische Sommerspiele Sydney 2000, Fussballverband Nationalteam U15 (1995–1998), U21 (1998–2000) und A-Team Männer 2000 bis Januar 2023 (22 Jahre)
- Nationaltrainer während der Nationalmannschaftstätigkeit: Köbi Kuhn, Othmar Hitzfeld, Vladimir Petkovic und Murat Yakin
- Turniere: Vier Europameisterschaften: 2004 Portugal, 2008 Österreich/Schweiz, 2016 Frankreich und 2021 Europa. Fünf Weltmeisterschaften: 2006 Deutschland, 2010 Südafrika, 2014 Brasilien, 2018 Russland und 2022 Katar
Eidgenössische Hochschule für Sport Magglingen EHSM
Hauptstrasse 247
2532 Magglingen
